Angst – wir alle kennen sie. Sie begegnet uns im Kleinen wie im Großen: als flüchtiger Impuls, als lähmende Spirale, als Dauerzustand. Sie schützt, warnt, mahnt – aber sie kann auch blockieren. Und je komplexer und vernetzter die Welt erscheint, desto schwerer fällt es, zwischen realer Bedrohung und gefühlter Gefahr zu unterscheiden. Angst betrifft nicht nur uns persönlich – sie kann ganze Gesellschaften erfassen.
In dieser Blogserie möchte ich mich dem Phänomen Angst auf verschiedenen Ebenen nähern: persönlich, politisch, historisch – mit dem Ziel, besser zu verstehen, was sie auslöst, wie sie wirkt und was sie mit uns macht. Der erste Beitrag beginnt mit einem Gefühl, das sogar im Ausland einen eigenen Namen trägt: die German Angst.
Teil 1: Die Gegenwart ist die Zukunft von gestern. „Eine Annäherung an die German Angst“
Zwischen Vorsicht und Erstarrung: Was „German Angst“ meint
Angst ist mehr als ein Gefühl. Manchmal ist sie ein diffuser Begleiter im Alltag, manchmal eine lähmende Gedankenspirale vor dem Einschlafen. Sie schützt uns – doch sie kann auch blockieren, unsere Wahrnehmung verengen und unser Denken bestimmen.
Genau an dieser Stelle beginnt eine Dynamik, die in Deutschland eine besondere kulturelle Ausprägung gefunden hat: German Angst. Ein Begriff, der im internationalen Diskurs für eine überdurchschnittlich ausgeprägte Sorge vor Risiken und Kontrollverlust steht.
Geschichte als Hintergrundrauschen
Die „German Angst“ ist kein Zufallsprodukt. Vielmehr ist sie eingebettet in kollektive Erfahrungen des 20. Jahrhunderts: Zwei Weltkriege, die Verbrechen des Nationalsozialismus, Zerstörung, Flucht, Verlust – all das hat Spuren hinterlassen, nicht nur in der Erinnerung, sondern auch im gesellschaftlichen Klima.
Auch wirtschaftliche Erschütterungen prägen das kollektive Gedächtnis: die Hyperinflation von 1923, in der Ersparnisse binnen Tagen wertlos wurden, oder der Zusammenbruch der Weimarer Wirtschaft, der Millionen Menschen in existenzielle Not stürzte. Solche Erfahrungen hinterließen ein tiefes Misstrauen gegenüber Instabilität – vor allem, wenn sie wirtschaftlicher Natur ist. Noch heute ist die Angst vor Geldentwertung, Systemcrashs oder dem Verlust erarbeiteter Sicherheit in Deutschland besonders ausgeprägt.
Auch Jahrzehnte später, in Zeiten von Frieden und Wohlstand, blieb ein latentes Grundgefühl der Unsicherheit erhalten – die leise Ahnung, dass Stabilität trügerisch sein kann. Viele Menschen entwickelten eine ausgeprägte Sensibilität für das, was kippen könnte. Nicht als direkte Weitergabe von Angst, sondern als kulturelle Prägung: durch Erzählungen, Schweigen, kollektive Stimmungen – auch zwischen den Zeilen ökonomischer Aufklärung.
Reaktion aus der Distanz: Der Atomausstieg nach Fukushima
Im März 2011 erschüttert ein Erdbeben die japanische Küste. Der folgende Tsunami trifft das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi – eine hoch technisierte Nation erlebt den GAU. Die Welt schaut entsetzt zu. Deutschland reagiert als einziges Land mit einem vollständigen Ausstieg aus der Kernenergie – und das binnen weniger Wochen: Während andere Länder wie Frankreich, Großbritannien oder die USA ihre Atomprogramme überprüften, aber grundsätzlich beibehielten, zog Deutschland einen klaren Schlussstrich¹.
Warum so drastisch und warum hier?
Angela Merkel, damalige Bundeskanzlerin und promovierte Physikerin, begründete den Kurswechsel mit einem tiefen Vertrauensbruch in die Beherrschbarkeit von Technik:
„Ich habe das Restrisiko akzeptiert, weil ich überzeugt war, dass es in einem Hochtechnologieland wie Japan nach menschlichem Ermessen nicht eintritt. Und genau dieses Restrisiko ist eingetreten.“¹
Es war nicht die geografische Nähe zur Katastrophe, die ausschlaggebend war, sondern die Erkenntnis, dass auch unter besten Bedingungen das Undenkbare geschehen kann. Diese Einsicht traf auf einen kulturellen Resonanzraum, in dem die Angst vor Kontrollverlust tief verankert ist.
Ein Blick auf die Strahlenwerte: In Fukushima-Stadt, rund 60 Kilometer vom Unglücksort entfernt, wurden zwei Wochen nach dem Unfall etwa 0,1 Mikrosievert pro Stunde gemessen – hochgerechnet knapp 1 Millisievert pro Jahr. Zum Vergleich: Ein Flug von London nach New York verursacht 0,08 Millisievert, eine Ganzkörper-CT 5 bis 10 Millisievert.
Trotzdem empfinden viele Atomkraft als gefährlicher als eine medizinische Untersuchung.
Denn was Angst macht, folgt selten reiner Logik. Wir fürchten nicht nur das, was objektiv riskant ist, sondern vor allem das, was wir nicht beherrschen. Der Reaktor wird zum Symbol: unsichtbar, unkontrollierbar, potenziell vernichtend.
Technikskepsis als kulturelle Signatur
Diese Haltung zeigt sich nicht nur in der Atomdebatte. Auch Gentechnik, künstliche Intelligenz oder digitale Überwachung stoßen in Deutschland auf besonders kritische Resonanz. Es dominiert ein tief verwurzeltes Sicherheitsbedürfnis, begleitet von einem starken Anspruch auf ethische Verantwortung.
Viele politische und gesellschaftliche Debatten tragen hierzulande eine auffallende Schwere: Ob beim Bau eines Bahnhofs, in der Klimapolitik oder bei der Einführung neuer Technologien – oft scheint es, als dürfe man sich keinen einzigen Fehler leisten. Diese Überhöhung erzeugt Verantwortung – aber auch Überforderung.
Hinzu kommt: Was in Deutschland erforscht wird, wird häufig anderswo zur Marktreife gebracht. Strenge Regulierung, lange Genehmigungsprozesse und öffentliche Skepsis sorgen dafür, dass Innovationen nicht selten exportiert werden – mitsamt wirtschaftlicher Wertschöpfung. Während anderswo mutiger getestet und schneller skaliert wird, bleibt Deutschland oft Zaungast des eigenen Fortschritts.
Fortschritt im Schatten der Vorsicht
Während anderswo Innovation mit Neugier empfangen wird, begegnet man ihr in Deutschland häufig mit Abwägung – oder Ablehnung. Der britische Risikoforscher David Spiegelhalter wundert sich über die deutsche Sensibilität bei Themen, die international kaum Aufmerksamkeit erregen – etwa die Aufregung über Google Street View oder die intensive Debatte um Schadstoffe in Babyprodukten, obwohl die Risiken oft gering oder längst reguliert sind.
Die Angst vor Kontrollverlust, vor einem „Zuviel“ an Veränderung, hat tiefe Wurzeln. Sie ist ein Echo jener historischen Erfahrung, dass das Normale trügen kann – und dass Sicherheit kein Zustand, sondern eine Errungenschaft ist, die man bewahren muss.
Doch diese Vorsicht hat ihren Preis: In der Balance zwischen Risiko und Gestaltung geht nicht nur Tempo verloren, sondern auch Teilhabe an zukunftsweisenden Entwicklungen. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit Technologie – sondern auch im Verhältnis zum Kapitalmarkt. Trotz stabiler Märkte und langem Aufschwung bleibt die Aktienquote in Deutschland niedrig: Nur etwa 18 % der Bevölkerung investieren direkt oder indirekt in Aktien¹ – in den USA sind es mehr als 60 %². Vielen gilt Investieren als spekulativ – selbst dann, wenn Nichtstun realen Wertverlust bedeutet. Auch hier wirkt eine tief verankerte Scheu vor dem Unkontrollierbaren.
Angst – Impuls oder Blockade?
Ist die German Angst ein Schutzmechanismus? Eine kulturelle Übervorsicht? Vielleicht beides. Sie hat zu wichtigen Debatten geführt, zu einem ausgeprägten Verantwortungsbewusstsein, zu gesellschaftlicher Selbstreflexion. Aber sie kann auch lähmen.
Wenn Angst zur Grundhaltung wird, verliert Vertrauen an Boden. Zukunft erscheint dann nicht als Möglichkeitsraum – sondern als Risiko. Und wer Innovation vor allem durch das Risiko betrachtet, riskiert, sie zu verpassen.
Zwischen Sensibilität und Selbstsabotage
Die German Angst ist mehr als ein Klischee. Sie ist Teil eines kulturellen Gefühlsraums – mit Licht und Schatten. Sie kann uns zu wacherem Denken bringen. Oder uns daran hindern, neue Wege zu gehen.
Entscheidend ist, wie wir mit ihr umgehen: ob wir Angst als Signal zur Reflexion verstehen – oder ihr das letzte Wort überlassen. Denn oft zeigt sich: Die Zukunft, vor der wir gestern Angst hatten, ist heute weit weniger bedrohlich als befürchtet. Vielleicht liegt darin die Chance, die Angst zu entmachten – und sie wieder als das zu begreifen, was sie im besten Fall ist: ein nützlicher Begleiter, nicht ihr eigener Herr.
¹ Regierungserklärung von Angela Merkel, Deutscher Bundestag, 9. Juni 2011.
² Quelle: Deutsches Aktieninstitut (2023): DAI-Fakten zur Aktienkultur in Deutschland.
³ Quelle: Federal Reserve Survey of Consumer Finances (2022): „Changes in U.S. Family Finances from 2019 to 2022“
⁴ Quelle: Internationale Energieagentur (IEA), Presseberichte und nationale Energiepolitiken, 2011–2022: Deutschland war das einzige Land, das infolge von Fukushima einen vollständigen und politisch beschlossenen Atomausstieg eingeleitet hat.